Meist wird Barrierefreiheit nicht ein alleiniges ausschließliches Vergabekriterium sein, sondern ein Kriterium von mehreren. In diesen Fällen ist es nicht oder nicht nur relevant, ob Barrierefreiheit überhaupt vorliegt, sondern es soll bewertet werden in welchem von mehreren ansonsten gleichwertigen Angeboten Barrierefreiheit besser erfüllt oder umgesetzt wurde. Prinzipiell können für eine solche Bewertung Test- oder Prüfverfahren als Entscheidungshilfe herangezogen werden. Inwieweit aber zum Beispiel ein Internetportal, welches in einem BITV-Test 96 Punkte erreicht, tatsächlich für einen bestimmten Fall besser geeignet ist, als ein anderes, welches lediglich 95 Punkte erreicht, ist fraglich. Gleiches gilt für eine rein „zahlenbasierte“ Auswertung mit anderen Prüfverfahren: In welchem von zwei gleichwertigen E-Mail-Clients, die bei einer Überprüfung mit BaNu (Barrieren finden, Nutzbarkeit sichern) die gleiche Anzahl erfüllter Prüfschritte aufweisen, ist Barrierefreiheit besser umgesetzt? Allerdings soll auch nicht nur einfach das „barrierefreiere “ Produkt gewählt werden: die Auftraggeber stehen bei ähnlichen Prüfergebnissen immer vor der Entscheidung: „Welches Angebot ist für meine Zwecke besser geeignet?“
Ist Barrierefreiheit ein zusätzliches Vergabekriterium, erfolgt eine Bewertung der Barrierefreiheit in der Regel durch den Auftraggeber vor dem Hintergrund einer bekannten Situation. Dabei können verschiedene Aspekte der Barrierefreiheit zusätzlich unterschiedlich gewichtet werden. Die Bewertung des Auftraggebers erfolgt in der Regel aufgrund einer qualitativen Beschreibung des Anbieters.
In Deutschland ist die Berücksichtigung von Barrierefreiheit als zusätzliches Vergabekriterium für Software bisher nicht verpflichtend, sie ist lediglich möglich (nach der „Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen, Teil A, Allgemeine Bestimmungen für die Vergabe von Leistungen (VOL/A)“.
Nach einer Umsetzung der im Amtsblatt der Europäischen Union am 28. März 2014 veröffentlichten Europäischen Richtlinien 24 und 25 wird sich dies möglicherweise ändern. Menschen mit Behinderungen und Anforderungen gemäß eines „Design für Alle“ sollen verstärkt berücksichtigt werden.
Es gibt mit dem Mandate 376 Bestrebungen europäische Vergabeverordnungen der öffentlichen Hand zu harmonisieren und Barrierefreiheit bei Informations- und Kommunikationstechnologien stärker zu berücksichtigen - ähnlich der amerikanischen Verordnung „Section 508" des Rehabilitation Act (Section 508 Of The Rehabilitation Act).
Die „Section 508" ist eine Verordnung ähnlich der deutschen Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV). Sie verpflichtet die Behörden jedoch nicht nur ihre Information auf zugängliche Art und Weise bereit zu stellen, sondern fordert im Gegensatz zur BITV auch, bei Gebrauch und Neuerwerb von Informationstechnologien sicher zu stellen, dass diese barrierefrei genutzt werden können.
Um dies zu gewährleisten werden Anbieter gebeten eine freiwillige Selbsterklärung zur Barrierefreiheit ihres Produktes abzugeben. Die Vorlage für eine solche Selbsterklärung (Voluntary Product Accessibility Template (VPAT) besteht aus dreispaltigen Tabellen zu den Bereichen:
In jeder Zeile sind in der jeweils ersten Spalte der Tabellen Kriterien zu den jeweiligen Bereichen angegeben, in der zweiten Spalte sollen Anbieter zu diesen Kriterien Angaben zu in ihrem Produkt unterstützten Merkmalen abgeben. Die dritte Spalte ist für Bemerkungen und Kommentare zum jeweiligen Kriterium vorgesehen.
Eine Erklärung zu den einzelnen Kriterien mit Links zu vertiefenden Informationen liefert die Schnellübersicht zu Section508-Dokumenten (Accessibility Forum : Quick Reference Guide to Section 508 Resource Documents, March 3, 2010, Version 2.0). Die abgegebenen Selbsterklärungen werden vom Accessibility Research Center veröffentlicht (alphabetische Liste).
Neben der Selbsterklärung der Anbieter, dem „Voluntary Product Accessibility Template (VPAT)", gibt es eine ähnlich aufgebaute Dokumentvorlage, (Government Product/Service Accessibility Template (GPAT) ). Diese Tabelle kann bei Angebotsersuchen vom Einkäufer an die Anbietenden verschickt werden. Die öffentlichen Verwaltungen können zu jedem Kriterium ihre speziellen Anforderungen vorgeben und angeben, ob ein Kriterium erforderlich oder vielleicht erforderlich ist. Im Gegensatz zum VPAT gibt es eine weitere Spalte für eine Bewertung, inwieweit ein Kriterium erfüllt ist oder nicht („ja, nein, teilweise, weiß nicht") sowie zwei weitere Untertabellen bei Angeboten zu Dienstleistungen (zu Informationsinhalten und zur Arbeitszeit).
Zur Auswertung und Übersicht gibt es für Einkäufer weitere Dokumentenvorlagen, den „BuyAccessible Evaluation Guide" , den „Buy Accessible Acceptance Guide" und den „Design Guide".
Als Unterstützung für die öffentliche Verwaltung steht neben anderen Leitfäden und Tools der „BuyAccessible Wizard " zur Verfügung. Durch Beantworten weniger Fragen in einem Online-Formular werden die Einkäufer der öffentlichen Verwaltung schrittweise durch die relevanten einzelnen Schritte des Beschaffungsprozesses geführt und sie können in einer Datenbank nach infrage kommenden Produkten recherchieren.
Die europäische Kommission hat ihre Mitgliedstaaten dazu verpflichtet Barrierefreiheit bei webbasierten Internetinformationen und -anwendungen von Trägern öffentlicher Gewalt gesetzlich zu regeln und dabei die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des W3C als Empfehlung festgelegt. Eine europäische „Einkaufsverordnung" vergleichbar zur US-amerikanischen „Section 508" gibt es bisher nicht. Einheitliche europäische Beschaffungsrichtlinien und einheitliche Standards zur Berücksichtigung von Barrierefreiheit bei Informations- und Kommunikationsprodukten und -dienstleistungen fehlen. Damit fehlen ebenso Hilfen im Beschaffungsprozess, wie sie in den USA unter anderem mit dem „BuyAccessible Wizard" vorliegen.
Um die Zugänglichkeit zu Produkten und Dienstleistungen der Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) zu verbessern, hatte die Europäische Kommission am 7. Dezember das Mandat 376 beschlossen (englisches PDF zum Mandat).
Mit diesem Mandat sollen die Normungsinstitutionen CEN, CENELEC und ETSI europaweite Standards für die Zugänglichkeit zu ICT-Produkten und Dienstleistungen entwickeln und bereitstellen. Es sollen verschiedene Leitfäden und Hilfen für die Verwaltung bereitgestellt werden. Unter anderem soll ein Online-Hilfsmittel erstellt werden, mit welchem die für öffentliche Beschaffungen Verantwortlichen schrittweise durch die Anforderungen dieser ICT-Zugänglichkeits-Standards und durch die einzelnen Schritte im Beschaffungsprozess geführt werden. Dies entspricht im Wesentlichen einerseits den 6 technischen Abschnitten im Teil B der „Section 508" und andererseits dem „BuyAccessible Wizard".
Die erste Phase des Mandats mit Vorrecherchen ist abgeschlossen, die zweite Phase soll Ende Oktober 2013 abgeschlossen sein.
Erste Zwischenergebnisse aus beiden Projektphasen liegen vor:
Die Europäische Norm EN 301549 "European accessibility requirements for public procurement of ICT products and services" (Version 1.1.1 von Februar 2014) liefert Ausschreibungskriterien für alle Bereiche Barrierefreier Informationstechnik. Neben Web, digitalen Dokumenten und Software auch für Hardware, wie zum Beispiel Automaten. Die Richtlinie ist ein Ergebnis der 2. Projektphase des Mandats 376.
Der technische Bericht "ETSI TR 102 612 "Human Factors; European accessibility requirements for public procurement of products and services in the ICT domain" fasst die Ergebnisse der ersten Projektphase des Mandats 376 zusammen. Der Bericht enthält u.a. eine Auflistung der relevanten existierenden Richtlinien und Normen.
Im Bericht "CEN BTWG 185 and CENELEC BTWG 101-5 Report "Conformity assessment systems and schemes for accessibility requirements" sind die Ergebnisse der ersten Projektphase in Bezug auf Testverfahren zusammengefasst.
Einer von drei unterstützenden technischen Berichten TR 101 552 "Guidance for the application of conformity assessment to European accessibility requirements for public procurement of ICT products and services" für die Europäische Norm EN 301 549. Sie enthält Hilfestellung zur Anwendung der Zugänglichkeitskriterien im Beschaffungsprozess von IKT-Produkten, insbesondere verschiedene Maßnahmen zur Sicherstellung der Einhaltung der geforderten Kriterien für angebotene Produkte.
Einer von drei technischen Berichten "TR 101 551 Guidelines on the use of accessibility award criteria suitable for public procurement of ICT products and services in Europe" zur Unterstützung der Europäischen Norm EN 301 549. Er gibt Hilfestellung im Beschaffungsprozess, legt u.a. unterschiedliche Typen von Kriterien fest und gibt hierzu Bewertungshilfen.
Der erste von drei technischen Berichten zur Unterstützung der Umsetzung der EN 301 549: "TR 101 550 Documents relevant to EN 301 549 Accessibility requirements suitable for public procurement of ICT products and services in Europe". Enthält Angaben zu allen Quellen, die bei der Erstellung der Norm betrachtet worden sind.
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